Skandalurteil: Keine Leistungskürzungen für Wirtschaftsflüchtlinge

Sollte dieses Urteil auch höchstrichterlich bestätigt werden und sich dann in der Welt herumsprechen, so dürfte es einen weiteren Sog von Wirtschaftsflüchtlingen nach Deutschland geben. Denn das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen hat seine Rechtsprechung zur Beurteilung des Einreisemotivs von Asylbewerbern präzisiert und damit die Rechte von Flüchtlingen gestärkt.

Die Richter befassten sich mit der Klage einer alleinerziehenden Mutter aus Nigeria, die über Italien nach Deutschland eingereist war. Ihr Asylantrag wurde abgelehnt; eine Abschiebung scheiterte jedoch durch die Gewährung von Kirchenasyl.

Nachdem die Afrikanerin einen Duldungsstatus erlangt hatte, beantragte sie bei der Stadt Göttingen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Die Stadt bewilligte allerdings nur eingeschränkte Leistungen, da die Antragstellerin ihre Ausweisung aus Deutschland verhindert hat und lediglich in die Bundesrepublik eingereist war, um in den Leistungsbezug zu kommen. Die alleinerziehende Mutter hingegen behauptete, dass die prekären Verhältnisse in Italien der Grund für die Weiterreise nach Deutschland gewesen sei. Sie sei dort ohne festen Wohnsitz gewesen. Für ihren Lebensunterhalt habe sie betteln und sich prostituieren müssen. Nach Deutschland sei sie nicht wegen der Asylbewerberleistungen gekommen, sondern aus Angst um Leib und Leben. Sie habe auf Hilfe gehofft.

Das Landessozialgericht hat – anders als die erste Instanz – die Stadt zur Zahlung ungekürzter Leistungen verurteilt. Voraussetzung einer Anspruchseinschränkung sei, dass der Leistungsbezug das prägende Motiv für die Einreise ist. Wenn die Einreise aufgrund einer unabweisbaren materiellen Notlage erfolge, könnten staatliche Leistungen zwar ein Motiv sein, jedoch müsse dies nicht immer derart prägend sein, dass daraus eine Leistungseinschränkung folge. Ein solcher Fall sei anzunehmen bei einer extremen materiellen Notlage, die der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichkomme.

Migrationspolitische Interessen müssten auch im Falle einer illegalen Einreise hinter der staatlichen Leistungspflicht zurückstehen, wenn ein Flüchtling in einem europäischen Mitgliedsstaat völlig auf sich allein gestellt sei und für längere Zeit auf der Straße leben müsse. Die Revision zum Bundessozialgericht ist wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen worden.

(Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 25.03.2021
– L 8 AY 33/16 -)


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