Über die Verhältnismäßigkeit der Corona-Politik – oder eben auch ihre Nichtverhältnismäßigkeit – wurde inzwischen viel diskutiert. Auch in meiner Sonntagskolumne habe ich darüber oft geschrieben. Betrachtet man die Debatten, die über viele Monate liefen und bis heute andauern, kann man mindestens sagen: Das Handeln der Regierung mit ihren teils sehr drastischen Eingriffen in Grundrechte war und ist in seiner Verhältnismäßigkeit umstritten. Gleichzeitig steht die Frage im Raum, was ein Staat anders und besser machen könnte, um effektiv durch eine solche Krise zu kommen. Hier scheiden sich weiterhin die Gemüter. Während viele den Wert der Freiheit und der Grundrechte verteidigen und ihn auch vor Sondersituationen wie einer Pandemie schützen wollen, sehen andere die Notwendigkeit, die Befugnisse der Staatsgewalt für einen Eingriff in Rechte und Freiheiten zu erleichtern. An den neuesten Interview-Aussagen von Baden-Württembergs grünem Ministerpräsident Winfried Kretschmann zeigt sich, wohin solche Gedanken führen können. Einmal mehr erhalten diejenigen eine Warnung, die zur Bundestagswahl die Grünen wählen wollen.
So äußerte Kretschmann in den Stuttgarter Nachrichten: „Wir sollten einmal grundsätzlich erwägen, ob wir nicht das Regime ändern müssen, so dass harte Eingriffe in die Bürgerfreiheiten möglich werden, um die Pandemie schnell in den Griff zu bekommen.“ Auch Änderungen des Grundgesetzes im Sinne einer neuen Notstandsgesetzgebung stellte Kretschmann in den Raum.
Nun haben wir die Debatte über eine Notstandgesetzgebung nicht zum ersten Mal. Im Jahr 1968 gab es einen Beschluss für Notstandsgesetze, dem zwei Jahrzehnte Debatte – und mehrere gescheiterte Anläufe – vorausgegangen waren. Kretschmann sollte angesichts seines Lebensalters das Ende der Debatte sogar noch live erlebt haben (er war im Jahr der Beschlüsse 20 Jahre alt). Durch den Beschluss wurde das Grundgesetz an einigen Stellen geändert und eine Unterscheidung zwischen Verteidigungsfall, Spannungsfall und innerem Notstand eingeführt. Der innere Notstand kann seither eintreten, wenn eine Naturkatastrophe oder ein besonders schwerer Unglücksfall gemäß Art. 35 des Grundgesetzes festgestellt wird. Grundsätzlich lässt sich auch eine Pandemie als Naturkatastrophe einordnen, die nicht auf ein Bundesland begrenzt ist. Der Staatsrechtler Hans-Georg Dederer von der Universität Passau argumentierte deshalb, sie könne als innerer Notstand aufgefasst werden.
Hiervon war allerdings in der Pandemie wenig bis gar nicht die Rede. Der innere Notstand verhilft nicht zu allen Befugnissen, die die Regierung zur Bekämpfung der Pandemie erhalten wollte. Daher ging man einen Umweg über das sogenannte Infektionsschutzgesetz, das mancher zugespitzt bereits als „neue Notstandsgesetzgebung“ bezeichnet hat. Womit wir auch zur eigentlichen Frage kommen. Nämlich der, ob es einer Reform des inneren Notstands bedarf, um dem Staat weitergehende Zugriffsmöglichkeiten in die Grundrechte der Bürger ohne Umwege wie ein „Infektionsschutzgesetz“ zu geben. Kretschmanns Aussagen gehen in diese Richtung.
Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang noch einmal die Debatte der sechziger und siebziger Jahre nachzuschlagen. Durchaus sah man schon damals Gefahren in einer unsachgemäßen Anwendung oder gar eines Missbrauchs von „Notständen“. Es formierte sich eine starke außerparlamentarische Opposition, die mit ihrer Sorge vor einer bürgerfernen und autoritären Staatsgewalt auf die Straße ging. Die Angst, dass mit den Gesetzen Notstandsregime wie in der Vergangenheit errichtet werden könnten, war groß. Der Schriftsteller Heinrich Böll warnte öffentlich, dass Notstände mit Gesetzen nicht zu regeln seien.
Ein halbes Jahrhundert später befürchten viele erneut eine leichtfertige Aufweichung von Grundrechten. Die Debatten nehmen mit jedem Monat der Pandemie zu. Selbst “Klima-Lockdowns” erreichen bereits als Schlagwort die Debatte. Winfried Kretschmann zeigt mit seinem Gedanken zum Pandemie-Regime stellvertretend für die Grünen, auf welcher Seite er sich mit seiner Verbotspartei positioniert.
Ein Gastbeitrag von Dana Guth. Sie ist Abgeordnete des Niedersächsischen Landtags für die LKR.
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